Tatsache (wissenschaftssoziologisch): Unterschied zwischen den Versionen

Aus wiki.climate-thinking.de
Wechseln zu: Navigation, Suche
K
K
 
(3 dazwischenliegende Versionen von einem anderen Benutzer werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
 +
{{Baustelle}}
 +
{{Infobox-Wissen}}Für „Wissensgesellschaften“<ref>Siehe etwa {{Quellen-Literatur|Autor*in=Willke, Helmut |Titel=Supervision des Staates|Ort=Frankfurt a. M. |Verlag=Suhrkamp |Jahr=1997 }}</ref> scheint es wie selbstverständlich, sich auf Tatsachen zu berufen. Doch bereits die Frage danach, was von wem und in welchen Kontexten als Tatsache anerkannt wird, eröffnet den Blick auf den Tatsachenbegriff selbst. In diesem Artikel wird der Begriff '''Tatsache''' aus einer '''wissenschaftssoziologischen''' Perspektive thematisiert.
 +
 +
==Der Tatsachen begriff bei Bruno Latour==
 
Der Soziologe, Philosoph und Wissenschaftsforscher [[Bruno Latour]] bestimmt seinen '''Tatsachenbegriff''' zwischen den beiden Polen Realismus und Konstruktivismus. Seine Überlegungen lassen sich im Kontext von [[Climate Thinking]] für das [[Über Klimawandel nachdenken|Nachdenken über den Klimawandel]] fruchtbar machen, indem sie erlauben, den Status unseres Wissen vom Klimawandel zu reflektieren.
 
Der Soziologe, Philosoph und Wissenschaftsforscher [[Bruno Latour]] bestimmt seinen '''Tatsachenbegriff''' zwischen den beiden Polen Realismus und Konstruktivismus. Seine Überlegungen lassen sich im Kontext von [[Climate Thinking]] für das [[Über Klimawandel nachdenken|Nachdenken über den Klimawandel]] fruchtbar machen, indem sie erlauben, den Status unseres Wissen vom Klimawandel zu reflektieren.
  
Zeile 4: Zeile 8:
 
Im Kontrast zum Gebrauch des Begriffs der „[[Tatsache (Alltag)|Tatsache]]“ in der Alltagssprache, fasst Latour eine Tatsache nicht als etwas, „das schon in der Welt vorhanden ist, sondern als eher spätes Resultat eines langen Verhandlungs- und Institutionalisierungsprozesses.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft |Ort=Frankfurt a. M. |Verlag=Suhrkamp |Jahr=2000 |Seite=381}}</ref> Diese Auffassung ähnelt dem wissenschaftstheoretischen Konzept von [[Ludwik Fleck]], der der alltagsnahen Rede von der „Entdeckung von Tatsachen“ die Formulierung „Entstehung und Entwicklung einer Tatsache“ entgegenstellt.<ref>Vgl. {{Quellen-Literatur|Autor*in=Fleck, Ludwik |Titel=Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache |Ort=Frankfurt a. M. |Verlag=Suhrkamp |Jahr=1980 }}</ref> In beiden Fällen werden Tatsachen somit als ''Tat-Sachen''<ref>Vgl. auch die Etymologie des verwandten Begriffs „Fakt“ von lat. ''factum'' „Tat, Handlung“. Siehe {{Quellen-Literatur|Autor*in=Pfeifer, Wolfgang |Titel=Lemma ‚Fakt‘ |Website=Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache |Online=https://www.dwds.de/wb/etymwb/Fakt |Abruf=05.02.2021 }}</ref> verstanden, also als Produkte wissenschaftlicher Arbeit. Gerade vor dem Hintergrund der alltäglichen Auffassung von Tatsachen entsteht hier eine Spannung: Wenn Tatsachen fabriziert sind, können sie nicht die Wirklichkeit darstellen, bzw. andersherum, Tatsachen sind gerade dann wirklich, solange sie nicht als fabriziert gesehen werden.<ref>Vgl. {{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft |Ort=Frankfurt a. M. |Verlag=Suhrkamp |Jahr=2000 |Seite=355}}</ref> Latours Anliegen ist es zu zeigen, dass diese Spannung aufgelöst werden kann, sobald man Tatsachen gleichermaßen als wirklich und fabriziert begreift.
 
Im Kontrast zum Gebrauch des Begriffs der „[[Tatsache (Alltag)|Tatsache]]“ in der Alltagssprache, fasst Latour eine Tatsache nicht als etwas, „das schon in der Welt vorhanden ist, sondern als eher spätes Resultat eines langen Verhandlungs- und Institutionalisierungsprozesses.“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft |Ort=Frankfurt a. M. |Verlag=Suhrkamp |Jahr=2000 |Seite=381}}</ref> Diese Auffassung ähnelt dem wissenschaftstheoretischen Konzept von [[Ludwik Fleck]], der der alltagsnahen Rede von der „Entdeckung von Tatsachen“ die Formulierung „Entstehung und Entwicklung einer Tatsache“ entgegenstellt.<ref>Vgl. {{Quellen-Literatur|Autor*in=Fleck, Ludwik |Titel=Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache |Ort=Frankfurt a. M. |Verlag=Suhrkamp |Jahr=1980 }}</ref> In beiden Fällen werden Tatsachen somit als ''Tat-Sachen''<ref>Vgl. auch die Etymologie des verwandten Begriffs „Fakt“ von lat. ''factum'' „Tat, Handlung“. Siehe {{Quellen-Literatur|Autor*in=Pfeifer, Wolfgang |Titel=Lemma ‚Fakt‘ |Website=Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache |Online=https://www.dwds.de/wb/etymwb/Fakt |Abruf=05.02.2021 }}</ref> verstanden, also als Produkte wissenschaftlicher Arbeit. Gerade vor dem Hintergrund der alltäglichen Auffassung von Tatsachen entsteht hier eine Spannung: Wenn Tatsachen fabriziert sind, können sie nicht die Wirklichkeit darstellen, bzw. andersherum, Tatsachen sind gerade dann wirklich, solange sie nicht als fabriziert gesehen werden.<ref>Vgl. {{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft |Ort=Frankfurt a. M. |Verlag=Suhrkamp |Jahr=2000 |Seite=355}}</ref> Latours Anliegen ist es zu zeigen, dass diese Spannung aufgelöst werden kann, sobald man Tatsachen gleichermaßen als wirklich und fabriziert begreift.
  
===Von Dinosauriern und anderen dynamischen Prozessen===
+
===Von Dinosauriern und anderen institutionellen Prozessen===
 
[[Datei:Dinosaurier-01.jpg|thumb|Realosaurus, Scientosaurus oder Popsaurus? Denver Museum of Science and Nature, 2008.]]In seinem 1996 erstmals auf deutsch veröffentlichten Aufsatz „Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen |Herausgeber*in=Latour, Bruno |Sammelband=Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften |Ort=Berlin |Verlag=Botopress |Jahr=2014 |Seite=145-156 }}</ref> beschreibt Latour die Beziehung zwischen den natürlichen Phänomenen in der Welt, deren wissenschaftliche Darstellung und dem sich im Alltag verfestigten Wissen von diesen Phänomenen. Latour nutzt hierfür eine Allegorie, in der er die sich wandelnde Befundlage in der Paläontologie anhand dreier „Dinosaurier“ darstellt: „Realosaurus“, als Repräsentant der vor über 65. Mio. Jahren ausgestorbenen Tiere, „Scientosaurus“, als das wissenschaftliche Wissen über Dinosaurier basierend etwa auf Knochenfunden, und „Popsaurus“ als das alltägliche Wissen über Dinosaurier, welches vornehmlich aus der Populärkultur stamme. Die intuitive Vorstellung sei es, dass Realosaurus und Scientosaurus in einer Urbild-Abbild Beziehung stehen, dass also das natürliche Phänomen in der Welt der Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Beschreibung sei. Insofern wäre Scientosaurus das wissenschaftlich fundierte Abbild von Realosaurus. In seiner Betrachtung strapaziert Latour nun diese intuitive Vorstellung, indem er das intuitive Verhältnis umkehrt und Realosaurus zum Abbild von Scientosaurus macht.
 
[[Datei:Dinosaurier-01.jpg|thumb|Realosaurus, Scientosaurus oder Popsaurus? Denver Museum of Science and Nature, 2008.]]In seinem 1996 erstmals auf deutsch veröffentlichten Aufsatz „Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen“<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen |Herausgeber*in=Latour, Bruno |Sammelband=Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften |Ort=Berlin |Verlag=Botopress |Jahr=2014 |Seite=145-156 }}</ref> beschreibt Latour die Beziehung zwischen den natürlichen Phänomenen in der Welt, deren wissenschaftliche Darstellung und dem sich im Alltag verfestigten Wissen von diesen Phänomenen. Latour nutzt hierfür eine Allegorie, in der er die sich wandelnde Befundlage in der Paläontologie anhand dreier „Dinosaurier“ darstellt: „Realosaurus“, als Repräsentant der vor über 65. Mio. Jahren ausgestorbenen Tiere, „Scientosaurus“, als das wissenschaftliche Wissen über Dinosaurier basierend etwa auf Knochenfunden, und „Popsaurus“ als das alltägliche Wissen über Dinosaurier, welches vornehmlich aus der Populärkultur stamme. Die intuitive Vorstellung sei es, dass Realosaurus und Scientosaurus in einer Urbild-Abbild Beziehung stehen, dass also das natürliche Phänomen in der Welt der Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Beschreibung sei. Insofern wäre Scientosaurus das wissenschaftlich fundierte Abbild von Realosaurus. In seiner Betrachtung strapaziert Latour nun diese intuitive Vorstellung, indem er das intuitive Verhältnis umkehrt und Realosaurus zum Abbild von Scientosaurus macht.
 
Die Idee hinter dieser zunächst als kontraintuitiv erscheinenden Verhältnissetzung ist für Latour wissenschaftshistorisch begründet, insofern die je aktuellen, sich ändernden wissenschaftlichen Befunde der Forschung, die natürlichen Phänomene selbst beschrieben und so nachträglich und rückwirkend formten. <ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen |Herausgeber*in=Latour, Bruno |Sammelband=Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften |Ort=Berlin |Verlag=Botopress |Jahr=2014 |Seite=150 }}</ref> Genau diese Entwicklung zeigt Latour auch am Beispiel der Tatsache auf, dass die DNA eine Doppelhelix-Struktur hat, indem er die konkrete Forschungsarbeit der beiden Molekularbiologen James Watson und Francis Crick nachzeichnet.<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Science in Action. How to Follow Scientists and Engeneers through Society |Ort=Cambridge (Mass.) |Verlag=Harvard University Press |Jahr=1987 |Seite=1-17}}</ref> Banal ausgedrückt lässt sich mit Latour sagen, dass aufgrund des je aktuellen Kenntnisstandes der Forschung die real existierenden Dinosaurier plötzlich schon immer ein Federkleid trugen und nicht einen Schuppenpanzer und die DNA plötzlich schon immer eine Doppelhelix-Struktur aufwies und nicht wie zuvor vielleicht angenommen eine Kristall- oder Trippelhelix-Struktur.
 
Die Idee hinter dieser zunächst als kontraintuitiv erscheinenden Verhältnissetzung ist für Latour wissenschaftshistorisch begründet, insofern die je aktuellen, sich ändernden wissenschaftlichen Befunde der Forschung, die natürlichen Phänomene selbst beschrieben und so nachträglich und rückwirkend formten. <ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen |Herausgeber*in=Latour, Bruno |Sammelband=Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften |Ort=Berlin |Verlag=Botopress |Jahr=2014 |Seite=150 }}</ref> Genau diese Entwicklung zeigt Latour auch am Beispiel der Tatsache auf, dass die DNA eine Doppelhelix-Struktur hat, indem er die konkrete Forschungsarbeit der beiden Molekularbiologen James Watson und Francis Crick nachzeichnet.<ref>{{Quellen-Literatur|Autor*in=Latour, Bruno |Titel=Science in Action. How to Follow Scientists and Engeneers through Society |Ort=Cambridge (Mass.) |Verlag=Harvard University Press |Jahr=1987 |Seite=1-17}}</ref> Banal ausgedrückt lässt sich mit Latour sagen, dass aufgrund des je aktuellen Kenntnisstandes der Forschung die real existierenden Dinosaurier plötzlich schon immer ein Federkleid trugen und nicht einen Schuppenpanzer und die DNA plötzlich schon immer eine Doppelhelix-Struktur aufwies und nicht wie zuvor vielleicht angenommen eine Kristall- oder Trippelhelix-Struktur.

Aktuelle Version vom 16. Februar 2022, 09:44 Uhr

Icon-Stift.png
Dieser Artikel befindet sich noch im Aufbau und muss inhaltlich überarbeitet werden, d. h. beispielsweise fehlende Inhalte, Belege, Abbildungen etc. ergänzt werden. Sie können mithelfen, den Artikel zu verbessern und damit das Living Handbook zu erweitern. Haben Sie alle ausstehenden Bearbeitungen durchgeführt, können Sie diesen Hinweis entfernen. Sie können weitere Artikel anzeigen, die sich im Aufbau befinden.



Teil der Reihe
Wissen in der Klimakrise
Logo-ndk-trans-blk.png


Einführung in die Themenreihe
Was ist eine Tatsache?
alltagssprachlich
wissenschaftssoziologisch
sprachphilosophisch


Für „Wissensgesellschaften“[1] scheint es wie selbstverständlich, sich auf Tatsachen zu berufen. Doch bereits die Frage danach, was von wem und in welchen Kontexten als Tatsache anerkannt wird, eröffnet den Blick auf den Tatsachenbegriff selbst. In diesem Artikel wird der Begriff Tatsache aus einer wissenschaftssoziologischen Perspektive thematisiert.

Der Tatsachen begriff bei Bruno Latour

Der Soziologe, Philosoph und Wissenschaftsforscher Bruno Latour bestimmt seinen Tatsachenbegriff zwischen den beiden Polen Realismus und Konstruktivismus. Seine Überlegungen lassen sich im Kontext von Climate Thinking für das Nachdenken über den Klimawandel fruchtbar machen, indem sie erlauben, den Status unseres Wissen vom Klimawandel zu reflektieren.

Tatsachen zwischen Realismus und Konstruktivismus

Im Kontrast zum Gebrauch des Begriffs der „Tatsache“ in der Alltagssprache, fasst Latour eine Tatsache nicht als etwas, „das schon in der Welt vorhanden ist, sondern als eher spätes Resultat eines langen Verhandlungs- und Institutionalisierungsprozesses.“[2] Diese Auffassung ähnelt dem wissenschaftstheoretischen Konzept von Ludwik Fleck, der der alltagsnahen Rede von der „Entdeckung von Tatsachen“ die Formulierung „Entstehung und Entwicklung einer Tatsache“ entgegenstellt.[3] In beiden Fällen werden Tatsachen somit als Tat-Sachen[4] verstanden, also als Produkte wissenschaftlicher Arbeit. Gerade vor dem Hintergrund der alltäglichen Auffassung von Tatsachen entsteht hier eine Spannung: Wenn Tatsachen fabriziert sind, können sie nicht die Wirklichkeit darstellen, bzw. andersherum, Tatsachen sind gerade dann wirklich, solange sie nicht als fabriziert gesehen werden.[5] Latours Anliegen ist es zu zeigen, dass diese Spannung aufgelöst werden kann, sobald man Tatsachen gleichermaßen als wirklich und fabriziert begreift.

Von Dinosauriern und anderen institutionellen Prozessen

Realosaurus, Scientosaurus oder Popsaurus? Denver Museum of Science and Nature, 2008.

In seinem 1996 erstmals auf deutsch veröffentlichten Aufsatz „Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen“[6] beschreibt Latour die Beziehung zwischen den natürlichen Phänomenen in der Welt, deren wissenschaftliche Darstellung und dem sich im Alltag verfestigten Wissen von diesen Phänomenen. Latour nutzt hierfür eine Allegorie, in der er die sich wandelnde Befundlage in der Paläontologie anhand dreier „Dinosaurier“ darstellt: „Realosaurus“, als Repräsentant der vor über 65. Mio. Jahren ausgestorbenen Tiere, „Scientosaurus“, als das wissenschaftliche Wissen über Dinosaurier basierend etwa auf Knochenfunden, und „Popsaurus“ als das alltägliche Wissen über Dinosaurier, welches vornehmlich aus der Populärkultur stamme. Die intuitive Vorstellung sei es, dass Realosaurus und Scientosaurus in einer Urbild-Abbild Beziehung stehen, dass also das natürliche Phänomen in der Welt der Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Beschreibung sei. Insofern wäre Scientosaurus das wissenschaftlich fundierte Abbild von Realosaurus. In seiner Betrachtung strapaziert Latour nun diese intuitive Vorstellung, indem er das intuitive Verhältnis umkehrt und Realosaurus zum Abbild von Scientosaurus macht.

Die Idee hinter dieser zunächst als kontraintuitiv erscheinenden Verhältnissetzung ist für Latour wissenschaftshistorisch begründet, insofern die je aktuellen, sich ändernden wissenschaftlichen Befunde der Forschung, die natürlichen Phänomene selbst beschrieben und so nachträglich und rückwirkend formten. [7] Genau diese Entwicklung zeigt Latour auch am Beispiel der Tatsache auf, dass die DNA eine Doppelhelix-Struktur hat, indem er die konkrete Forschungsarbeit der beiden Molekularbiologen James Watson und Francis Crick nachzeichnet.[8] Banal ausgedrückt lässt sich mit Latour sagen, dass aufgrund des je aktuellen Kenntnisstandes der Forschung die real existierenden Dinosaurier plötzlich schon immer ein Federkleid trugen und nicht einen Schuppenpanzer und die DNA plötzlich schon immer eine Doppelhelix-Struktur aufwies und nicht wie zuvor vielleicht angenommen eine Kristall- oder Trippelhelix-Struktur. Aus dem alltäglichen Verständnis heraus ließe sich nun einwenden, dass sich der wirkliche Tyrannosaurus genauso wenig wie die wirkliche Struktur der DNA (in beiden Fällen der Realosaurus) nicht rückwirkend verändert haben, nur weil Forscher*innen ihre Beschreibungen geändert haben (in beiden Fällen der Scientosaurus). Bei diesem Einwand bleibt jedoch unklar, auf was mit dem Verweis auf den „wirklichen Tyrannosaurus“ oder die „wirkliche Struktur der DNA“ Bezug genommen wird, denn über den Tyrannosaurus und über die DNA-Struktur besteht nur Wissen aufgrund der wissenschaftlichen Vermittlung. Genau in diesem Sinne wird für Latour der Scientosaurus zum Urbild des Realosaurus und damit auch deutlich, weshalb die von uns herangezogenen Tatsachen sowohl wirklich als auch fabriziert sein können.
Die Schwierigkeit bei dieser Perspektivierung begründe sich für Latour in einer unscharfen Bezugnahme auf zwei verschiedene Blickrichtungen, welche fälschlicherweise gleichzeitig eingenommen würden. Latour bezeichnet diese als „Science in the Making” und „Ready Made Science“. Aus der rückblickenden Perspektive der Ready Made Science erschienen frühe Forschungsergebnisse als stabil, geradlinig und gewiss. Daher kann der Bayerische Rundfunk auch titeln „1953 entschlüsselten die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick die Doppelhelix-Struktur der DNS“[9]. Aus Sicht der sich erst vollziehenden Forschung im Sinne der Science in the Making zeigten sich hingegen Ungewissheit, Menschen bei der Arbeit, Entscheidungen, Wettbewerb und Kontroversen – und ein Modell aus Metall und Pappe, obwohl beide nichts mit der DNA selbst zu tun haben.[10] Durch das Einführen des Popsaurus wird die Beziehung zwischen Realosaurus und Scientosaurus weiter verkompliziert, da Popsaurus nicht nur das beharrliche Alltagswissen über Dinosaurier charakterisiert, wie es aus „Science-Fiction-Romanen [...] als auch auf den Rundfahrten in Disneyland“[11] gewonnen wird. Wissen dieser Art über mythische Figuren wie Drachen und Lindwürmern wiederum prägte, so vermutet Latour, bereits die Vorstellung von Naturforschern wie Richard Owen und Gideon Mantell, als diese anhand einzelner Knochenfunde phantastische Tierwesen rekonstruierten.[12] Die Bezugnahmen zwischen einem solchen populären Wissen und dem Wissen der Expert*innen beschreibt auch Fleck in seinem Konzept esoterischer und exoterischer Kreise.

Latours Tatsachenbegriff in der Debatte um den Klimawandel

In der Debatte um den Status der wissenschaftlichen Tatsache, dass der Klimawandel von Menschen verursacht wird, tritt die Eingangs erwähnte Spannung zwischen Wirklichkeit und Fabrikation zu Tage, die sich aus dem alltäglichen Verständnis einer Tatsache speist. Tatsachen sind in diesem Sinne immer schon in der Welt und müssen lediglich entdeckt werden. Wird die Tatsache hingegen aktiv durch wissenschaftliche Forschung hervorgebracht, könne es sich dabei nicht um eine Tatsache handeln, sondern höchstens um eine Meinung einzelner Wissenschaftler*innen. Latour thematisiert diesen Punkt mit Blick auf den Klimawandel:

„While we spent years trying to detect the real prejudices hidden behind the appearance of objective statements, do we now have to reveal the real objective and incontrovertible facts hidden behind the illusion of prejudices? And yet entire Ph.D. programs are still running to make sure that good American kids are learning the hard way that facts are made up, that there is no such thing as natural, unmediated, unbiased access to truth, that we are always prisoners of language, that we always speak from a particular standpoint, and so on, while dangerous extremists are using the very same argument of social construction to destroy hard-won evidence that could save our lives. Was I wrong to participate in the invention of this field known as science studies? Is it enough to say that we did not really mean what we said? Why does it burn my tongue to say that global warming is a fact whether you like it or not? Why can’t I simply say that the argument is closed for good?“[13]

Belege

  1. Siehe etwa Willke, Helmut (1997): Supervision des Staates. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  2. Latour, Bruno (2000): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 381.
  3. Vgl. Fleck, Ludwik (1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  4. Vgl. auch die Etymologie des verwandten Begriffs „Fakt“ von lat. factum „Tat, Handlung“. Siehe Pfeifer, Wolfgang (o. J.): Lemma ‚Fakt‘. In: Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache. Online, zuletzt abgerufen am 05.02.2021.
  5. Vgl. Latour, Bruno (2000): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 355.
  6. Latour, Bruno (2014): Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen. In: Latour, Bruno (Hrsg.): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Botopress, S. 145-156.
  7. Latour, Bruno (2014): Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen. In: Latour, Bruno (Hrsg.): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Botopress, S. 150.
  8. Latour, Bruno (1987): Science in Action. How to Follow Scientists and Engeneers through Society. Cambridge (Mass.): Harvard University Press, S. 1-17.
  9. James Watson entschlüsselte die DNS-Struktur. In: BR Online. Online, zuletzt abgerufen am 05.02.2021.
  10. Vgl. Latour, Bruno (1987): Science in Action. How to Follow Scientists and Engeneers through Society. Cambridge (Mass.): Harvard University Press, S. 12.
  11. Latour, Bruno (2014): Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen. In: Latour, Bruno (Hrsg.): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Botopress, S. 145-156, hier S. 145.
  12. Vgl. Latour, Bruno (2014): Drei kleine Dinosaurier oder: Der Alptraum eines Soziologen. In: Latour, Bruno (Hrsg.): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Botopress, S. 145-156, hier S. 155.
  13. Latour, Bruno (2004): Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern. In: Critical Inquiry 30(2), S. 225-248, hier S. 227. Online, zuletzt abgerufen am 05.02.2021.



Autor*innen

Die Erstfassung dieses Artikels wurde in der Pilotierungsphase des Living Handbooks (2020) in einer anderen digitalen Umgebung erstellt. Die Versionsgeschichte gibt daher nicht die gesamte Entstehung des Artikels wieder und listet auch nicht alle beteiligten Autor*innen als User*innen.

Zitiervorlage: Tatsache (wissenschaftssoziologisch) (2020). In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Tatsache (wissenschaftssoziologisch), zuletzt abgerufen am 28.03.2024.