Postkoloniale Narratologie – Der Versuch einer Zusammenfassung: Unterschied zwischen den Versionen

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In diesem Artikel erfahren Sie mehr über grundlegende Ideen zu einer '''postkolonialen Narratologie'''.
 
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Version vom 8. Juli 2022, 09:27 Uhr

In diesem Artikel erfahren Sie mehr über grundlegende Ideen zu einer postkolonialen Narratologie.

Postkoloniale Theorien – gegen Kontinuitäten der Ausbeutung und Unterdrückung

Die Postcolonial Studies entstanden Ende der 1970er Jahre in der Anglistik und zielen auf die Betrachtung der heterogenen Auswirkungen des Kolonialismus sowohl in den (ehemaligen) Kolonien (Peripherie), als auch in den Zentren (also den Imperialmächten und den kolonialen Metropolen) ab. Die akademische Auseinandersetzung debattiert gegen eurozentristische Betrachtungen und möchte einen Beitrag zum Empowerment Unterdrückter leisten.[1] Hauptvertreter*innen der postkolonialen Studien sind Frantz Fanon, Edward Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Ch. Spivak.

Postkoloniale Narratologie – das Verhältnis zwischen Erzählung und Kolonialismus

In ihrem einschlägigen Artikel „Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie“ (2002) möchten Birk und Neumann die Diskussion um eine postkoloniale Erzähltheorie anregen. Zunächst betonen sie, dass die postkoloniale Narratologie keine Entsprechung von Form und Funktion bieten könne. Vielmehr seien Erzählformen semantisiert und stünden in einem komplexen gesellschaftlichen Zusammenhang, der die eindeutige Bestimmung einer Funktion verunmögliche. Literatur wird somit als poiesis, als Ausdruck kultureller Selbstverständigung, und nicht als mimesis, als Nachahmung der Umgebung, betrachtet. Sie generiert gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktionen, was für den postkolonialen Kontext bedeutet, dass durch literarische Analysen untersucht werden kann, inwiefern koloniale Romane Beiträge zur Entstehung der imperialen Idee leisteten bzw. wie postkoloniale Romane fiktionale Wirklichkeitsmodelle der Peripherie revisionistisch erschreiben. Postkoloniale Literaturwissenschaften verfolgen also die ideologiekritische Analyse des kolonialen und des postkolonialen Diskurses.[2]

Zentrale Fragen der postkolonialen Literaturtheorie

  • Wie durchzieht der Kolonialismus (damals bis heute) Kulturen innerhalb und außerhalb der ehemaligen Kolonien?
  • Welche literarischen Formen werden zur Herstellung welcher Wirklichkeitskonzepte gewählt?
  • Welches Verhältnis zwischen Kolonialisierenden und Kolonialisierten wird konstruiert?[3]

Zentrale Ziele der postkolonialen Literaturtheorie

  • Literaturen aus revisionistischer und ideologiekritischer Perspektive zu reinterpretieren (Offenlegung imperialistischer und eurozentristischer Wahrnehmungsschemata) sowie die Konstruktion des ‚kolonialen Anderen‘ (Literatur der Kolonialist*innen) zu dekonstruieren.
  • die Interpretation der Literatur aus der Peripherie zur Stabilisierung der unterdrückten Kultur (Literatur der (ehemals) Unterdrückten).[4]


Über postkoloniale narratologische Analysen können Identitätskonstruktionen auf der Ebene von Individuen sowie von Kollektiven dekonstruiert werden, da es sich um Diskursformationen handelt, die in der Literatur (mit-)erzeugt werden. Das Hauptanliegen einer solchen Ausrichtung ist es, essentialistische Identitätskonstruktionen über Dekonstruktion aufzudecken und so auf eine dynamische, hybride und komplexe ‚Identität‘ zu verweisen. Die Fixierung von ‚Identität‘ wird jedoch vor allem bei der Kollektivbildung notwendig, um die temporäre Gleichartigkeit in Selbst- und Weltverständnis und die konstruierte ‚Kohärenz‘ der Individuen und des Kollektivs sichtbar zu machen und um als Gruppe überhaupt diskursfähig zu werden. Dies gilt insbesondere für unterdrückte oder subalterne Kollektive.[5] Erzählungen sind eine Möglichkeit, die gemeinsame ‚Identität‘ zu erzeugen, zu reproduzieren und zu praktizieren. Die postkoloniale Narratologie kann nun untersuchen, über welche Mittel diese ‚Identität‘ narrativ und diskursiv erzeugt wird.[6]

Ein weiterer zentraler Aspekt der postkolonialen Narratologie ist laut Birk und Neumann die „dynamische Wechselwirkung von Alterität und Identität“.[7] Da ‚Identität‘ über ‚das Andere‘ konstruiert wird, scheint es insbesondere im postkolonialen Zusammenhang entscheidend, wie ‚das Andere‘ narrativ kreiert wird. Handelt es sich um stereotypisierende, abwertende oder essentialisierende Repräsentationen, deren Funktionen (beispielsweise die Legitimation des Kolonialismus und die ‚zivilisatorische Mission‘) herausgearbeitet werden können? Über welche literarischen Mittel werden ‚Identität‘ und ‚Alterität‘ fixiert? Besonders komplex gestaltet sich dieses Spannungsfeld bei kolonialisierten Subjekten, da sie das über eurozentristische Werte negativ bewertete ‚Andere‘ als ihre ‚Identität‘ anerkennen müssen. Die Analyse von Auto- und Heterostereotypen kann hierbei Aufschluss geben. Doch auch das Gegenteil kann der Fall sein: dynamische, hybride ‚Identitäten‘ werden in ihren Widersprüchen literarisch verhandelt. Narratologisch lässt sich dies beispielsweise über Konzepte der Multiperspektivität und Heteroglossie erfassen.[8]

Graphische Übersicht zu Analyseparametern der postkolonialen Narratologie.

Bereits an früherer Stelle erwähnt wurde das Konzept „hybrider Kulturen“, das Dichotomien zu überwinden sucht. Homi K. Bhabha geht nicht von einem multikulturellen Nebeneinander, sondern von einem unlösbaren transkulturellen Zusammenspiel zwischen ‚Identität‘ und ‚Alterität‘ sowie zwischen Zentrum und Peripherie aus. Die Aushandlung innerhalb dieses Spannungsfeldes sieht er im „dritten Raum“. Dort können kulturelle Differenzen aus subalterner Sicht artikuliert werden und hybride kulturelle Identitäten entstehen, wodurch Konzepte ‚reiner Kulturen‘ hinterfragt werden. Narratologisch erfasst werden kann dies über Darstellungen von Hybridität und ‚Reinheit‘ sowie die Wertung von Hybridität beispielsweise in der Figurenkonstellation, Perspektivstruktur oder Raumdarstellung.[9]

Zum Abschluss dieser kleinen Einführung soll exemplarisch auf narratologische Mittel eingegangen werden, die Birk und Neumann zufolge auf bestimmte Funktionspotenziale im (post-)kolonialen Kontext haben können (siehe Abbildung).[10] Die reduzierte Auswahl favorisiert Aspekte, die für den Zusammenhang mit dem ursprünglich indigenen Konzept des Buen Vivir besonders relevant scheinen.

Belege

  1. Vgl. Miriam Nandi (2009): Gayatri Chakravorty Spivak. Eine interkulturelle Einführung. Nordhausen: Verlag Bautz, S. 17-18.
  2. Vgl. Hanne Birk und Birgit Neumann (2002): Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, S. 116-117.
  3. Vgl. Hanne Birk und Birgit Neumann (2002): Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, S. 117-119.
  4. Vgl. Hanne Birk und Birgit Neumann (2002): Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, S. 119.
  5. Siehe Gayatri Chakravorty Spivak (1994): Can the Subaltern Speak?. In: Patrick Williams und Laura Chrisman (Hrsg.): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader, Hertfordshire: Harvester Wheatsheaf, S. 66–111.
  6. Vgl. Hanne Birk und Birgit Neumann (2002): Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, S. 119-122.
  7. Hanne Birk und Birgit Neumann (2002): Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, S. 123.
  8. Vgl. Hanne Birk und Birgit Neumann (2002): Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, S. 123-127.
  9. Vgl. Hanne Birk und Birgit Neumann (2002): Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, S. 127-129.
  10. Vgl. Hanne Birk und Birgit Neumann (2002): Go-Between. Postkoloniale Erzähltheorie. In: Ansgar Nünning und Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier: WVT, S. 129-145.



Autor*innen

Erstfassung: Annika Rink am 16.05.2022. Den genauen Verlauf aller Bearbeitungsschritte können Sie der Versionsgeschichte des Artikels entnehmen; mögliche inhaltliche Diskussionen sind auf der Diskussionsseite einsehbar.

Zitiervorlage:
Rink, Annika (2022): Postkoloniale Narratologie – Der Versuch einer Zusammenfassung. In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Postkoloniale Narratologie – Der Versuch einer Zusammenfassung, zuletzt abgerufen am 29.03.2024.