Narrativ

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In diesem Artikel wird der Grundbegriff Narrativ aus literaturwissenschaftlicher Perspektive behandelt.

Laut Duden hat das Substantiv „Narrativ“ folgende Bedeutung: „[verbindende] sinnstiftende Erzählung, Geschichte“.[1]

Ein Narrativ ist demzufolge eine sprachliche Abfolge aus verschiedenen Bestandteilen, wie beispielsweise Argumenten, Metaphern oder Vorstellungen, die mit Fakten kombiniert werden, um komplizierte fachliche Inhalte auf anschauliche Weise zu kommunizieren. Narrative stellen eine Kombination aus Problemen und Lösungsmöglichkeiten dar.[2]

Das „Narrativ“ ist ursprünglich ein literaturwissenschaftlicher Begriff, der eine Bedeutungserweiterung erfahren hat. Nun wird er vermehrt in gesellschaftlichen, historischen und politischen Kontexten gebraucht.[3]

Entstehung eines Narrativs nach Gisela Zifonun (2017)

Visualisierung-Entstehung eines Narrativs nach Zifonun

Narrative entstehen laut Gisela Zifonun folgendermaßen:

Ausgangspunkt ist eine Erzählung bzw. eine Geschichte. Diese wird mit gesellschaftlichen, politischen und historischen Zusammenhängen in Verbindung gebracht. Dadurch entsteht das Narrativ. Dieses ist durch bestimmte Zuschreibungen gekennzeichnet und kann entweder von der Realität abweichen oder eine neue generieren.[4]

Entstehung eines Narrativs am Beispiel des Eisbärs

Der Eisbär ist ein anschauliches Beispiel für ein Klimawandelnarrativ. Eisbären stehen als dramatisches, emotionalisierendes Sinnbild für das Artensterben, das der anthropogene Klimawandel zur Folge haben wird: Steigt die Temperatur auf der Erde weiterhin an, schmilzt den Tieren ihr Lebensraum weg. Die komplexen Vorgänge, die hinter der Problematik der Erderwärmung stehen, können mithilfe des Narrativs 'Eisbär' verständlich erklärt werden. Fakten des Klimawandels, kombiniert mit einer (emotionalisierenden) Geschichte kommunizieren somit gesellschaftswirksam, welche Folgen die Klimakatastrophe haben kann. Implizit kann durch dieses Narrativ auch zum Handeln motiviert werden.

Narrative und der Klimawandel

Mit dem Einsatz von Narrativen im Klimawandeldiskurs ist es möglich, der Gesellschaft durch die Verknüpfung von Erzählungen und Fakten die komplexe Problematik näher zu bringen und damit unter Umständen eine Handlungsmotivation zu bewirken.[5]

Der Professor für Humangeografie Mike Hulme fasst die Funktion von Narrativen im Klimawandeldiskurs folgendermaßen zusammen:

„Weder Technologie noch Politiker können den Weg aus der Klimakrise weisen. [...] Es bringt nichts, sich geschlossen hinter die Wissenschaft zu stellen, die objektiven Fakten auf den Tisch zu legen und zu meinen, das sei bereits die Lösung. Die Wissenschaft allein bietet keine moralische Vision, keine ethische Haltung, kein politisches Gerüst für die Art von Welt, nach der Menschen sich sehnen. [...] Aber es gibt Handlungsmotive jenseits der Wissenschaft [...]. Womöglich mangelt es an Geschichten, Narrativen – übergeordneten Mythen, wenn man so will –, die von unterschiedlichen Menschen getragen werden und die die Politik anleiten, um dem Klimawandel zu begegnen.“[6]

Beispiele für Narrative („Zukunftsvisionen“[7]) im Klimawandelsdiskurs

- Ökomodernismus: Wirtschaftliches Wachstum und ökologische Verantwortung widersprechen einander in dieser Zukunftsvision nicht.[8] Das grüne Wachstum soll unter anderem mithilfe von moderner Technik erreicht werden, sodass Wohlstand und ein klimafreundlicher Lebenswandel miteinander vereint werden können.[9]

- radikale öko-sozialistische Kapitalismuskritik: Der Klimawandel kann ausschließlich durch eine radikale gesellschaftliche Veränderung erreicht werden, wie der Abschaffung des Kapitalismus. Ohne Kapitalismus und ohne einen Fokus auf stetiges Wirtschaftswachstum ist es innerhalb dieses Narrativs möglich eine Klimakatastrophe zu verhindern.[10]


Funktionen von Narrativen nach Espinosa/Pregernig/Fischer (2017)

- „Kommunikation ermöglichen“[11]: Durch Narrative werden komplizierte Sachverhalte schlüssig und nachvollziehbar erklärt, sodass diese Themen zugänglicher werden. Sie werden als eine Art Geschichte formuliert, in welcher sich Fakten und Fiktionen vermischen können.

- „Aufzeigen, was getan werden soll“[12]: Mit dem Einsatz von Narrativen wird ein Sachverhalt verdeutlicht, aus welchem indirekt hervorgehen kann, was getan werden muss/sollte.

- „Wertesysteme erhalten oder verändern“[13]: Durch Narrative werden Grundsätze bzw. Grundhaltungen vermittelt, die zu einem Wandel bzw. zu einer Veränderung von Wertesystemen führen können (bspw. um dem Klimawandel entgegenzuwirken).

- „Bezugspunkte für soziale Akteure bieten“[14]: Soziale Akteure (z.B. Individuen, Kommissionen, Parteien, Bewegungen) können durch die Verwendung von Narrativen ihre Position zu einem Sachverhalt entwickeln und sie gegenüber anderen verdeutlichen.

- „Politische Allianzen und kollektives Handeln konfigurieren“[15]: Narrative können zur Bildung von (politischen) Bündnissen beitragen und die Grundlage für ein gemeinsames Handeln zwischen verschiedenen Akteuren legen. Sie können Solidarität erzeugen.

- „Politische Positionen und strategische Legitimation produzieren“[16]: Der Einsatz von Narrativen ermöglicht es, bestimmte (politische) Positionen zu prägen und Meinungen zu generieren. Durch Narrative lassen sich ebenso Handlungen rechtfertigen. Dabei spielt die Kombination von rationalen und emotionalen Elementen innerhalb der Erzählung (des Narrativs) eine zentrale Rolle.

Kritikpunkte

Laut Gisela Zifonun wird der Begriff des Narrativs häufig zu abstrakt und damit inflationär gebraucht. Auf diese Weise sinkt der semantische Anteil oder er verschwindet gänzlich („semantische Entleerung“). Schließlich existiert nur noch eine Parole, ein Mythos, ein Mantra oder eine Idee. Als Beispiel für ein sinnentleertes Narrativ ohne Aussagekraft führt Zifonun folgendes Zitat an: „‚Vielleicht ist ja auch New York bloß ein Narrativ‘ (ZEIT Online, 20.10.2005)“[17]

Belege

  1. [Lemma] Narrativ. Duden, In: Duden.de. Online, zuletzt abgerufen am 14.02.2022.
  2. Vgl. Espinosa, Cristina; Pregernig, Michael; Fischer, Corinna (2017): Narrative und Diskurse in der Umweltpolitik: Möglichkeiten und Grenzen ihrer strategischen Nutzung. In: Umweltbundesamt Texte (86) Online, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.
  3. Vgl. Zifonun, Gisela (2017): Ein Geisterschiff auf dem Meer der Sprache: Das Narrativ. In: Sprachreport 33(3), S. 1. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.
  4. Zifonun, Gisela (2017): Ein Geisterschiff auf dem Meer der Sprache: Das Narrativ. In: Sprachreport 33(3), S. 1-3. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.
  5. Vgl. Hulme, Mike (07.12.2020): Ein Problem, das sich nicht lösen lässt. In: Welt-Sichten. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.
  6. Hulme, Mike (07.12.2020): Ein Problem, das sich nicht lösen lässt. In: Welt-Sichten. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.
  7. Hulme, Mike (07.12.2020): Ein Problem, das sich nicht lösen lässt. In: Welt-Sichten. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.
  8. Vgl. Hulme, Mike (07.12.2020): Ein Problem, das sich nicht lösen lässt. In: Welt-Sichten. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.
  9. Vgl. Sarma, Amardeo (o. J.): Ökomodernismus: Umweltschutz und Wohlstand weltweit. In: Ökomoderne e.V.. Online, zuletzt abgerufen am 14.02.2022.
  10. Hulme, Mike (07.12.2020): Ein Problem, das sich nicht lösen lässt. In: Welt-Sichten. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.
  11. Espinosa, Cristina; Pregernig, Michael; Fischer, Corinna (2017): Narrative und Diskurse in der Umweltpolitik: Möglichkeiten und Grenzen ihrer strategischen Nutzung. In: Umweltbundesamt Texte (86) Online, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.
  12. Espinosa, Cristina; Pregernig, Michael; Fischer, Corinna (2017): Narrative und Diskurse in der Umweltpolitik: Möglichkeiten und Grenzen ihrer strategischen Nutzung. In: Umweltbundesamt Texte (86) Online, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.
  13. Espinosa, Cristina; Pregernig, Michael; Fischer, Corinna (2017): Narrative und Diskurse in der Umweltpolitik: Möglichkeiten und Grenzen ihrer strategischen Nutzung. In: Umweltbundesamt Texte (86) Online, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.
  14. Espinosa, Cristina; Pregernig, Michael; Fischer, Corinna (2017): Narrative und Diskurse in der Umweltpolitik: Möglichkeiten und Grenzen ihrer strategischen Nutzung. In: Umweltbundesamt Texte (86) Online, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.
  15. Espinosa, Cristina; Pregernig, Michael; Fischer, Corinna (2017): Narrative und Diskurse in der Umweltpolitik: Möglichkeiten und Grenzen ihrer strategischen Nutzung. In: Umweltbundesamt Texte (86) Online, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.
  16. Espinosa, Cristina; Pregernig, Michael; Fischer, Corinna (2017): Narrative und Diskurse in der Umweltpolitik: Möglichkeiten und Grenzen ihrer strategischen Nutzung. In: Umweltbundesamt Texte (86) Online, zuletzt abgerufen am 12.01.2022.
  17. Zifonun, Gisela (2017): Ein Geisterschiff auf dem Meer der Sprache: Das Narrativ. In: Sprachreport 33(3), S. 2. Online, zuletzt abgerufen am 11.01.2022.



Autor*innen

Erstfassung: Hannah Bubenheim am 25.01.2022. Den genauen Verlauf aller Bearbeitungsschritte können Sie der Versionsgeschichte des Artikels entnehmen; mögliche inhaltliche Diskussionen sind auf der Diskussionsseite einsehbar.

Zitiervorlage:
Bubenheim, Hannah (2022): Narrativ. In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Narrativ, zuletzt abgerufen am 29.03.2024.