Benutzer: Hannah Tholen/Werkstatt

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Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Konzept der aperspektivischen Objektivität, wie es vor allem von der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston entwickelt wird.

Aperspektivität als Komponente der Objektivität

In unserem alltagssprachlichen Gebrauch verstehen wir heute unter objektiv etwas, was „sachlich, unvoreingenommen, unparteiisch“ ist und „unabhängig von einem Subjekt […] tatsächlich“[1] existiert. Daston zufolge ist unsere heutige – auch fachsprachliche – Verwendung des Begriffs jedoch „auf hoffnungslose […] Weise verworren“, da sich darin verschiedene und voneinander zu unterscheidende Bedeutungsebenen überlagern. Daston unterscheidet zwischen drei Komponenten:

  • metaphysische Objektivität, d. h. eine Bezugnahme auf die „Objektive Wahrheit“, auf „das Empirische“ bzw. „das Faktische“ oder „wirklich Wirkliche“
  • methodische Objektivität, im Sinne „objektiver Verfahren“, oder ungefähr synonym für „das Wissenschaftliche“ als Garant für empirisch zuverlässige Befunde
  • moralische Objektivität, d. h. bezogen auf eine „objektive Haltung“, die sich durch „Unparteilichkeit bis zur Selbstverleugnung und für kaltblütige Beherrschung der Gefühle“ und damit vom Zurücktreten von der eigenen Perspektive (=aperspektivisch) auszeichnet.[2]

Die in diesem Artikel beschriebene und auf eine spezifische Haltung bezogene „aperspektivische Objektivität“ ist dementsprechend nur eine Komponente der Objektivität. Dennoch dominiere sie laut Daston unseren heutigen Objektivitätsbegriff,[3] wie auch in der obigen alltagssprachlichen Verwendung von objektiv deutlich wird, welche sich fast ausschließlich auf diesen Aspekt beschränkt.

Aperspektivische Objektivität idealisiert eine Haltung ohne persönliche Einflussnahme, bei der das individuelle Subjektive ignoriert werden soll, um die Suche nach „Wahrheit“ und somit nach Tatsachen (im alltäglichen Sinn) nicht zu behindern. Da Menschen immer persönliche Erfahrungen machen und individuelle Vorannahmen treffen, sind Befunde auch immer dadurch beeinflusst. Diese individuellen Eigenarten sollen für das Ideal der aperspektivischen Objektivität eliminiert werden, wobei kein eliminieren aller „Eigenarten“ gemeint ist, da Forscher *innen immer noch ihre notwendigen Fähigkeit als Forscher*innen haben müssen, um beispielsweise eine schwach leuchtende Substanz zu erkennen.[4] Doch geht es darum den eigenen Standpunkt zu überkommen, oder besser noch: „den“ Standpunkt allgemein. Aperspektivität zielt auf den „Blick von nirgendwo“.[5]

Historische Ursprünge der aperspektivischen Objektivität

Laut Daston hat das heute stark mit den Naturwissenschaften verbundene Konzept der Aperspektivität seinen historischen Ursprung in der Ästhetik und Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts. Erst zu dieser Zeit wurde der Begriff Objektivität im Sprachgebrauch nicht mehr nur in seiner metaphysischen Bedeutung verwendet, sondern auch für Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit zu stehen. Diese Dimension der Objektivität wurde jedoch nicht, wie aus heutiger Sicht zu vermuten wäre, in den aufstrebenden Naturwissenschaften dieser Zeit geprägt, sondern findet laut Daston ihren Ursprung im Kontext von moralischen Fragen und ästhetischen Urteilen. 1757 spricht David Hume in Of the Standards of Taste davon, dass man sein „individuelles Sein“ und „die eigenen Lebensumstände“ vergessen solle, um die Schönheit eines Kunstwerks angebracht zu beurteilen. Tut man dies nicht, weicht der „Geschmack offensichtlich vom wahren Maßstab ab, und folglich verliert er alle Autorität und Glaubwürdigkeit.“[6] Hume fordert für das Fällen ästhetischer Urteile somit jene unvoreingenommene, unparteiische und von der eigenen Person unabhängige Haltung ein, die sich im heutigen Sprachgebrauch des Begriffes „objektiv“ zeigt. Jedoch geht es ihm um das Einnehmen verschiedenster Perspektiven und nicht um den „totalen Rückzug aus der Perspektive, der mit dem ‚Blick von nirgendwo‘ einhergeht.“[7] Dies, so zeigt Daston, fordert zur selben Zeit Adam Smith im Kontext moralphilosophischer Urteile ein. Wie Hume geht es auch Smith um das Erkennen „wahrer Maßstäbe“ beim Urteilen, also dem Erkennen einer Objektivität im metaphysischen Sinne.[8] Die beste Möglichkeit ein solches Urteil zu fällen, besteht für Smith darin, vom Standpunkt einer imaginierten dritten Person, die freigesprochen von Beziehungen und Einstellungen ist, auf den zu beurteilenden Sachverhalt zu schauen.[9] Im 18. Jahrhundert wird also Distanz und Unparteilichkeit als erkenntnistheoretisches Ideal von Objektivität eingeführt, allerdings in der Ästhetik und Moralphilosophie und nicht wie angenommen, in den (Natur-)Wissenschaften.

Aperspektivität in den Naturwissenschaften

Objektive Methode zur Darstellung eines menschlichen Torsos für ein wissenschaftliches Handbuch. Aus: Cheselden, William (1750): The Anatomy of the Humane Body, London: Hitch & Dodsley, S. 9.

Dastons These ist, dass das Konzept der aperspektivischen Objektivität Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Moralphilosophie und der Ästhetik in die Naturwissenschaften aufgenommen wurde. Grund hierfür war laut Daston das Entstehen einer neuen Ausformung wissenschaftlicher Gemeinschaften. Zuvor basierte wissenschaftliche Forschung auf Hierarchie und Erfahrung, galt die Autorität einzelner Forschungspersönlichkeiten als zentrales Kriterium, was im scharfen Kontrast zur entsubjektivierten Sicht der aperspektivischen Objektivität steht[10]. Vor dem 19. Jahrhundert gab es bis auf Briefwechsel einzelner Forscher*innen kaum mit heute vergleichbare wissenschaftliche Korrespondenz: Der vorhandene Austausch beschränkte sich auf Freundschaften (oder Feindschaften) der Gelehrten, also um „hochgradig selektive Verbindungen zwischen Gleichrangigen“.[11] Der Austausch verlief zudem langsam und beschwerlich über Briefe und Postwege.

Diese homogene Gruppe wurde vielschichtiger und begann sich durch den Infrastrukturwandel des 19. Jahrhundert zu vernetzen: Der schnelle Transport mit den sich stetig ausbreitenden Eisenbahnnetzen und die Möglichkeit der Telegrafie sorgten erstens für Kommunikationsmöglichkeiten, die die Entstehung einer „Scientific Community“ in ganz neuer Weise erlaubte: Die Vernetzung motivierte die Vorstellung eines überzeitlich bestehenden wissenschaftlichen Kollektivs und damit eines neuen Verständnisses von Wissenschaft allgemein, bei dem einzelne Personen nur noch „einen Baustein zu dem großen Bauwerk hinzufügen“.[12] Zweitens wuchs somit auch der Bedarf an einem standardisierten Austausch, einer Entkopplung der Forschung von den Forscher*innen und der Wunsch nach einem Abgleich von Befunden und der Wiederholbarkeit von Experimenten. Bedingung hierfür war, dass sowohl die Methoden als auch die zu untersuchenden Phänomene standardisiert werden mussten. So wurde aperspektivische Objektivität auch zum Ideal in den Naturwissenschaften.[13]

Aperspektivische Objektivität und ihre Folgen

Laut Daston mussten aufgrund der Forderung nach Objektivität im 19. Jahrhundert einige zurvor bestehende und etablierte wissenschaftliche Werte aufgegeben werden. Darunter vor allem das wissenschaftliche „Handwerksgeschick“.[14] Durch den Fortschritt der Wissenschaften, wurde aus der zuvor als wertvoll erachteten Autorität und Befähigung einzelner Individuen etwas Subjektives, mit Mangel und Grund zum Zweifel verbundenes, was weder wünschenswert noch zeitgemäß erschien. Die Priorität lag nun in dem wissenschaftlichen Austausch vieler Menschen und damit in der zunehmenden Standardisierung von Personal, Methoden, Apparaturen und Phänomenen. Somit wuchs auch die Forderungen nach mehr und billigeren Arbeitskräften, die mit wenig Anleitung Experimente durchführen oder Beobachtungen anstellen konnten. Die hohen Anforderung der aperspektivischen Objektivität konnten sonst nicht mehr erfüllt werden.[15] Da das Handwerksgeschick einer einzelnen Person an Relevanz verlor, konnte auch die wissenschaftliche Arbeit wie in einer Manufaktur geregelt werden: zunehmend standardisiert, automatisiert und ohne der Voraussetzung besonderen Wissens auch zunehmend durch Hilfskräfte. Diese Vorgehensweise war profitabel, weil sie günstig war: „Kurz, handwerkliches Geschick und Erfahrenheit war ein zu aristokratischer Zug für eine Demokratie wissenschaftlicher Beobachter, wo Demokratie mit toquevilleschen Assoziationen von Mittelmäßigkeit behaftet war“.[16]

Die Objektivität richtete sich an der Vermittelbarkeit von Erkenntnissen aus und diese setzte das Ideal einer vom Subjekt befreiten Perspektive voraus. Der Physiologe Claude Bernard betonte entsprechend, dass gerade ungebildete Kräfte sogar weniger voreingenommen seien als erfahrene Forscher*innen und damit vielleicht sogar objektiver in ihren Beobachtungen.[17] Doch, so Daston, führte dies zunehmend zu einem Verlust an wichtigen Informationen, welche eigentlich zentraler Bestandteil von z. B. Beobachtungsprotokollen gewesen sind. Diese verlorenen Informationen waren „zu sehr an Person und Ort gebunden, um den strikten Anforderungen der aperspektivischen Objektivität zu genügen“.[18]

Fazit

Zusammenfassend lassen sich folgende Erkenntnisse über die aperspektivische Objektivität nach Daston festhalten: Erstens, es handelt sich lediglich um einen Teil des Oberbegriffs Objektivität, nämlich den Teil, der als moralische Forderung eine objektive Haltung voraussetzt, dass eigene Selbst und damit die Eigenarten, Besonderheiten und Standpunkte abzulegen. Zweitens, entwickelte sich dieser Aspekt des Begriffs nicht in den Naturwissenschaften, sondern in den Bereichen der Moralphilosophie und der Ästhetik. Drittens, wurde im 19. Jahrhundert die aperspektivische Objektivität auch in den Wissenschaften als Ideal aufgenommen. Jedoch zunächst nicht aus erkenntnistheoretischen Gründen, sondern aufgrund infrastruktureller Veränderungen und dem Entstehen einer „wissenschaftlichen Gemeinschaft“. Zuletzt wurde verdeutlicht, dass aperspektivische Objektivität ihre Kosten hat, nämlich einerseits den Verlust an anderen wissenschaftlichen Werten wie Erfahrenheit oder Geschick und andererseits einen hohen Arbeitsaufwand.[19]

Schließlich lässt sich mit Daston Fragen, warum „allgemein zugängliches Wissen – Beobachtungen, die möglichst vielen Leuten möglichst leicht übermittelt und von ihnen reproduziert werden können – den metaphysischen Anspruch erheben [sollte], die größte Annäherung an die Wirklichkeit darzustellen?“[20]

Belege

  1. [Lemma] objektiv. Duden, Berlin: Dudenverlag (2022). In: Duden. Online, zuletzt abgerufen am 09.06.2022.
  2. Alle Zitate aus: Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 127.
  3. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 129.
  4. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 130.
  5. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 129.
  6. Hume, David (1826): Of Standards of Taste. Edinburgh: Philosophical Works, S. 371.
  7. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 136.
  8. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 137.
  9. Smith, Adam (1976): The Theory of Moral Sentiments. Oxford: Oxford University Press, S. 135.
  10. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 146.
  11. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 141.
  12. Renan, Ernest (1890): L'Avenir de la Science. Paris: , S. 91.
  13. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 149.
  14. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 145.
  15. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 143-145.
  16. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 146.
  17. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 149.
  18. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 147.
  19. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 148.
  20. Daston, Lorraine (2003): Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, S. 148.

Autor*innen

Erstfassung: am 09.06.2022. Den genauen Verlauf aller Bearbeitungsschritte können Sie der Versionsgeschichte des Artikels entnehmen; mögliche inhaltliche Diskussionen sind auf der [[Diskussion:Benutzer:Hannah Tholen/Werkstatt|Diskussionsseite]] einsehbar.

Zitiervorlage:
Tholen, Hannah et al. (2022): Werkstatt. In: Böhm, Felix; Böhnert, Martin; Reszke, Paul (Hrsg.): Climate Thinking – Ein Living Handbook. Kassel: Universität Kassel. URL=https://wiki.climate-thinking.de/index.php?title=Benutzer:Hannah Tholen/Werkstatt, zuletzt abgerufen am 19.04.2024.